Professor Andreas Voßkuhle ist Direktor des Instituts für Staatswissenschaft und Rechtsphilosophie an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg. Bis 2020 war der heute 61-Jährige zehn Jahre lang Präsident des Bundesverfassungsgerichts – der jüngste in der Geschichte. Im Interview erzählt der LMU-Alumnus, wie es dazu kam, was bei Studium und Forschung in Deutschland besser laufen könnte und warum er sich Sorgen um die Demokratie macht.
Was führte einen gebürtigen Ostwestfalen 1983 zum Studium zunächst nach Bayreuth und anschließend nach München an die LMU?
Andreas Voßkuhle: Bayreuth hatte damals eine junge Universität und eine wirtschaftswissenschaftliche Zusatzausbildung im Programm – das hat mein Interesse geweckt. Damals lag die Stadt noch im Zonenrandgebiet, wir lebten also in einer Art Diaspora. Das führte zu einem großen Zusammenhalt unter den Studierenden und Professoren. Gleichzeitig war eine große Aufbruchsstimmung zu spüren.
Der LMU-Alumnus Professor Andreas Voßkuhle war von 2010 bis 2020 Präsident des Bundesverfassungsgerichts in Karlsruhe.
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Ihr Vater war Verwaltungsjurist. Haben Sie sich deswegen für Jura entschieden?
Mein Vater hat seinen Beruf geliebt. Eine Alternative für mich wären Theaterwissenschaften gewesen. Ich habe mich damals sehr für Literatur und Schauspiel interessiert. Aber unter den Intendanten gab es damals viele Juristen, deshalb dachte ich mir, das kann ich später immer noch machen. Architektur hätte ich auch spannend gefunden, aber Architekten waren damals bettelarm.
Wie haben Sie Ihre Studienzeit in Erinnerung, was war damals anders als heute?
München war damals schon teuer, aber man konnte gut nebenher Geld verdienen. Ich war Hilfskraft in verschiedenen Bibliotheken und am Institut für Zivilrecht. Außerdem habe ich Wäsche ausgefahren und Kinokritiken geschrieben. Ich lebte in einer Wohngemeinschaft, die war sehr klein, aber nett. Das Studium war damals noch nicht so verschult wie heute. Und das Verständnis für die Bedürfnisse der Studierenden war damals noch nicht so ausgeprägt. Deswegen brauchte es mehr Eigeninitiative, was aber auch zu mehr Selbstständigkeit und Freiheit im Studium führte. Was man aber nicht unterschätzen darf, war die große Konkurrenzsituation. Wir waren immer zu viele.
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Sie wurden 1992 an der LMU promoviert und haben sich in Augsburg habilitiert. Zwischenzeitlich waren Sie Rechtsreferendar am Amtsgericht Kaufbeuren und Referent im bayerischen Innenministerium. Haben Sie in dieser Zeit eine besondere Verbindung zu Bayern aufgebaut?
Ich habe mich in Bayern immer sehr wohl gefühlt und in München auch meine Frau kennengelernt. Nach Augsburg gewechselt bin ich, weil mein Doktorvater Peter Lerche emeritiert wurde, sonst wäre ich wohl an der LMU geblieben. Eigentlich wollte ich nach der Habilitation einen Ruf an eine kleine bayerische Universitätsstadt annehmen, aber dann hat sich alles doch anders ergeben (lacht).
Früher war alles ein bisschen freier – auch die Lehrformate.
Professor Andreas Voßkuhle
Seit 1999 haben Sie einen Lehrstuhl für Öffentliches Recht an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg inne, wo Sie unter anderem auch Dekan und Rektor waren. Werden junge Menschen in Ihren Augen gut auf die Zukunft vorbereitet?
Früher war alles ein bisschen freier – auch die Lehrformate. Da wurden bei den Vorlesungen von berühmten älteren Rechtsprofessoren wie Peter Lerche oder dem im Februar verstorbenen Claus Roxin einfach ein paar Fälle besprochen. Das war eine Einladung zum Gespräch, bei der man das juristische Denken lernte. So etwas ist bei dem durchgeplanten Stundenplan heute nicht mehr möglich. Alles, was nicht examensrelevant ist, findet immer seltener statt. Das finde ich schade.
Sie sind auch Mitglied bei Wissenschaftsorganisationen wie der Max-Planck-Gesellschaft oder der Leopoldina. Wie sieht es bei der Forschung aus?
Heute ist die Forschung von der Drittmittelkultur geprägt. Früher war es wichtiger, ob man einen klugen Aufsatz geschrieben hat. Junge Forscherinnen und Forscher sind auch immer mehr der Aufmerksamkeitsökonomie ausgesetzt. Das heißt, sie müssen schauen, dass sie sichtbar sind. Das führt dazu, dass ein Interview in den Tagesthemen wichtiger ist als ein Grundlagenaufsatz, an dem man früher vielleicht ein Jahr gesessen hat. Auch bei der Grundausstattung sind die Unterschiede größer geworden. Heute gibt es an den Universitäten eine chronische Unterfinanzierung.
Bis 2020 waren Sie zehn Jahre lang Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Haben Sie darauf hingearbeitet?
Das war nie mein Ziel, niemand strebt das an. Das wird man oder wird man nicht, da müssen sehr viele Faktoren zusammenkommen, das hat man nicht selbst in der Hand. Ich bin sehr dankbar für die Wahl. Das ist das größte und schönste Amt für einen Verfassungsrechtler. Nach zwölf Jahren ist aber Schluss und man kann nicht wiedergewählt werden. Dann muss man sich wieder anderen Dingen zuwenden.
Wie haben Sie Ihre Zeit als Präsident erlebt?
Das Gericht ist schon eine besondere Institution und Vorbild für viele andere Verfassungsgerichte auf der Welt. Wir haben versucht, das Gericht und seine Arbeitsweise der Öffentlichkeit näherzubringen. Die Menschen wollen wissen, warum sie dem Gericht vertrauen können. Auch haben wir die Kontakte zu anderen europäischen Institutionen und Gerichten in Europa und anderen Teilen der Welt vertieft. Darüber hinaus gab es während meiner Amtszeit viele Entwicklungen, die vor allem die innere Struktur betrafen. Als Präsident muss man sich aber auch um viele Alltagsfragen kümmern – etwa die Sanierung des Hauptgebäudes.
Mir ist es wichtig, einen Beitrag für unsere demokratische Kultur zu leisten.
Professor Andreas Voßkuhle
Seit dem Ende Ihrer Amtszeit sind Sie Vorsitzender des Vereins „Gegen Vergessen – Für Demokratie“. Worum geht es Ihnen dabei?
Voßkuhle: Mir ist es wichtig, einen Beitrag für unsere demokratische Kultur zu leisten. Ich hätte auch einer Partei beitreten können, aber als Wissenschaftler und Richter bin ich unparteiisch sozialisiert. Daher passte dieser Verein besser. Wir beschäftigen uns mit dem Nationalsozialismus und der SED-Diktatur und fördern aktive Demokratiearbeit. Ehrenamtlich stemmen wir rund 600 Projekte im Jahr. Für eine so kleine Organisation ist das durchaus ein solider Arbeitsnachweis.
Die Demokratie und vor allem die Meinungsfreiheit in Deutschland wurden zuletzt von bestimmten Personen im In- und Ausland zunehmend infrage gestellt.
Voßkuhle: Das ist ein interessantes Phänomen. In Deutschland gibt es wenig Beschränkungen, etwas zu sagen. Wir sind ein Land mit einer sehr stark ausgebauten Rechtsprechung zur Meinungsfreiheit. Viele Menschen haben aber das Gefühl, dass sie Dinge nicht mehr sagen können, ohne dass es zum Konflikt kommt. Das sehen sie als Bedrohung. Tatsächlich haben wir verlernt, uns mit den Ansichten anderer auseinanderzusetzen. Die Bereitschaft, anderen zuzuhören, ist gesunken. Das hat aber nichts mit Meinungsfreiheit zu tun, sondern mit der politischen Kultur, Demokratie und Toleranz.
Macht Ihnen das Sorgen?
Voßkuhle: Es reicht ein Blick in die USA, wo die, die von Meinungsfreiheit faseln, gerade brutale Cancel Culture betreiben. Dabei nutzen sie autoritäre Techniken, schüchtern Leute ein, entfernen Bilder aus Archiven und verändern Schulbücher. Das sind Tendenzen, wie wir sie von autoritären Unterdrückungsstaaten kennen. Gleichzeitig behauptet man aber, man tue etwas für die „Free Speech“. Hinter diesem Schlagwort spielen sich Dinge ab, über die man reden muss. Ich hoffe, dass wir in Deutschland wieder stärker miteinander ins Gespräch kommen.
Was können Universitäten unternehmen, um die Demokratie zu fördern?
Voßkuhle: Universitäten sind zentrale Orte, wo die Diskurse geführt werden können. Dabei müssen wir dafür sorgen, dass möglichst viele Meinungen zur Geltung kommen und man sich nicht sofort gegenseitig verdächtigt. Wir benötigen ein Klima der Toleranz und Auseinandersetzung, um produktive Kritik zu fördern. Das erwarte ich von allen Hochschulleitungen.
Sie mischen sich auch politisch mit ein. Zuletzt nach der Bundestagswahl, wo Sie mit einer Bürokratieabbau-Initiative den Staat wieder handlungsfähig machen wollen. Was sind Ihre Zukunftspläne?
Voßkuhle: Das Leben war bisher sehr gut zu mir und ich bin dankbar über die vielen Möglichkeiten, die andere heute nicht haben. Daraus resultiert für mich eine innere Verpflichtung, etwas zurückzugeben und mich für das Gemeinwesen einzusetzen. Jeder sollte das im Rahmen seiner Möglichkeiten tun – egal ob mit Hausaufgabenhilfe, Deutschunterricht oder ehrenamtlicher Arbeit bei der Tafel. Ich hätte nach dem Bundesverfassungsgericht auch in einen Aufsichtsrat wechseln können, aber da fehlte mir etwa die Gemeinwohlperspektive. Außerdem will ich mich weiterhin für den Hochschulstandort Deutschland einsetzen und noch viel forschen – vor allem zur Verfassungsgerichtsbarkeit. Da kann ich meine Praxiserfahrungen mit der theoretischen Forschung verbinden.
Was geben Sie jungen Menschen mit auf den Weg?
Voßkuhle: Zwei Dinge. Erstens: Es gibt kein Patentrezept für ein gutes Leben. Jeder muss seinen eigenen Weg finden. Und zweitens: Was man tut, sollte man mit Begeisterung machen – und das andere weglassen. In Vorlesungen zu gehen und dann nicht zuzuhören, ist zum Beispiel verlorene Zeit. Aber das ist nur meine Beobachtung, siehe Punkt 1 (lacht).